
(Seattle - zur Begrüßung gab es 8 Tage Wolken und Regen)
Kaum fühlte ich mich in Alaska heimisch, da stand auch schon der Weiterflug nach Seattle vor der Tür. Ich hatte – zugegebenermaßen auf den letzten Drücker – meine nächste Couch und eine Mitfahrgelegenheit nach Anchorage organisiert. Natürlich wäre es sicherer gewesen, eine Nacht in Anchorage zu verbringen, aber Ryans Geburtstag hielt mich in Fairbanks und ich wurde zum Abschied noch einmal mit riesigen Nordlichtern direkt über unserem Haus beschenkt. Um der Gefahr aus dem Weg zu gehen, meine Mitfahrgelegenheit um 6Uhr morgens zu verschlafen, beschloss ich, die Nacht durchzumachen, was wiederum dazu führte, dass ich keine Anzeichen von Nervosität aufbringen konnte, als ich später in der Dämmerung fast eine Stunde auf meinen Fahrer wartete, der mich scheinbar versetzt hatte. Mein Hirn, das sich im Standby-Modus befand, verarbeitete folgende Informationen: „Ganz schön früh... keine Sau draußen... hm, wird eng mit dem Flug... vielleicht per Anhalter?... nee, zuviel Gepäck, zu früh, Straße zu weit entfernt... ganz schön kalt...vielleicht sollte ich wieder ins Haus gehen?!... schlafen wäre jetzt gut... ich komme schon irgendwie aus Alaska raus... muss ja nicht heute sein... aber der Flug war teuer... irgendwie mag ich das Sofa... das hat so einen schönen kitschigen Überwurf mit einem Elchmotiv... meine Mitfahrgelegenheit kommt wohl nicht mehr... ja, Elchmotiv, keine Pferde. Aber die selbe Machart... braun-beige, Polyester und Made in China... vielleicht auch Made in Turkey... Nina! Seattle!!! Reiß dich mal zusammen!... Warum nimmt der Typ meine Anrufe nicht entgegen?... kalt... müde... ich gehe mal kurz ins Haus... nur kurz...“ Als ich das Wohnzimmer betrat, öffnete sich plötzlich die zweite Außentür auf der anderen Seite des Gebäudes und Christophe (meine Arktisexpeditionsbegleitung) stand vor mir!?! Des Rätsels Lösung war, dass Christophe auf Craigslist die selbe Mitfahrgelegenheit gefunden hatte. Beide haben eine Weile auf der anderen Seite des Gebäudes gewartet, dachten, ich käme nicht mehr und fuhren los. Ansel (der Fahrer) erzählte Christophe unterwegs, dass ich in meiner Mail geschrieben hatte, dass es für mich aufgrund des Fluges eigentlich sehr wichtig sei, nach Anchorage zu kommen. Nach ein paar Kilometern beschlossen beide, zurückzufahren und einen neuen Anlauf zu starten. Irgendwann fiel Christophe auch wieder ein, in welchem der vielen Apartments ich wohnte und wollte mich persönlich abholen...
Die Interstate nach Fairbanks führt durch einen Nationalpark hindurch, direkt vorbei an der Alaska Range mit dem Mount Mc Kinley, noch im Winterschlaf liegenden Ferienhäusern und Gaststätten, gefrorenen Flüssen, an der in den Berg gesprengten Alaska Railroad, wabernden Nebelschwaden... Ansel, der mit seinem Auto aus Kalifornien (!) angereist war, hatte eine große Auswahl an chilliger Musik auf Lager, weshalb ich desöfteren eingedöst bin, obwohl ich zwanghaft versucht habe, die Augen offenzuhalten, da ich mir die sonnige Traumkulisse, die an uns vorbei zog, nicht entgehen lassen wollte. In Anchorage verfuhr er sich leider ein paar mal und mein Zeitfenster schmolz dahin. Das war Ansel dann sichtlich unangenehm und ich habe als Entschädigung für die fast siebenstündige Fahrt nur ein paar Dollar zahlen müssen. Im Flughafen selbst lief alles reibungslos: Aufgrund meines verlorenen Gepäcks am Anfang meiner Reise haben die netten Damen am Schalter mich umsonst auf einen früheren Flug umgebucht, sodass ich zu einer passablen Uhrzeit in Seattle landen sollte. Passkontrolle war auch überhaupt kein Problem! Wenn man erstmal ein Visum für die USA hat, dann ist das recht entspannt. Der Flug an sich war so öde, dass ich mir irgendwann ein DVD-Entertainment-Gedöns gemietet habe. Mir fehlt nun die letzte Minute des Films, da die Player landeanflugbedingt eingesammelt wurden... Nachdem ich mein Gepäck vom Band geholt hatte, schaute ich beim Lost & Found vorbei, wo sich mein Notebook befand. Dieses war schon geschlossen, aber das war mir zu dem Zeitpunkt auch ganz recht, da ich eh genug zu schleppen hatte. Ich fuhr mit der Metro (Seattle hat ein für US-Verhältnisse hervorragendes System an öffentlichen Verkehrsmitteln) nach Downtown. Die scheinbar endlos lange und steile Rolltreppe an der Station spülte mich nicht nur an die Erdoberfläche, sondern katapultierte mich regelrecht vom beschaulichen Fairbanks direkt in eine Hollywood-Großstadtkulisse. Wolkenkratzer, heulende Polizeisirenen, schummrige Alleys, Obdachlose, alte Chevys, Monstertrucks und Stars & Stripes an jeder Ecke... Das habe ich ein paar Minuten auf mich wirken lassen und anschließend die richtige Bushaltestelle gesucht. Ich hatte noch gar keinen Plan, wie das dortige Busticketsystem funktioniert und die Straße war wie leergefegt, sodass ich auch niemanden fragen konnte. Doch plötzlich, als hätte sie meine Gedanken gelesen, sprach mich diese merkwürdige schwarze Voodoo-Oma an (wo kam die nur so schnell her?) und wollte mir eine Fahrkarte verkaufen?! Sie war verdammt putzig. Stellt Euch eine alte, kleine, zierliche schwarze Frau mit wild abstehenden Dreadlocks, weit aufgerissenen Augen, einem zotteligen Mantel und ausgelatschten Mokassins vor. Ihr habe ich die Karte dann selbstverständlich abgekauft. Sie war einfach zu süß. Außerdem hat sie beim Grab ihrer Mutter geschworen, dass sie mir keinen Schrott verkauft. Und das soll was heißen! Nach ein paar Umwegen erreichte ich die Straße, die mir mein Couchsurfer als Zieladresse genannt hatte: Queen Anne Ecke Aloha Street (was für ein Straßenname!).
Couch Nr. 5: Brents Couchsurfing-Profil ist sehr spärlich mit Informationen bestückt, aber seine knappe, kryptische Selbstbeschreibung klang interessant: born in 1986, died to the world as I know it in 2009, reborn as an early retieree trying to avoid the coorperate world for the rest of my life promptly there after. Die Beschreibung der Couch und das dazugehörige Bild überzeugten mich, ihn letztlich anzuschreiben.
Sein Apartment befindet sich halb auf einem Berg, 7.Stock, mit einem wirklich grandiosen Blick auf die Bucht und vom Badezimmer aus schaut man auf die Skyline von Seattle. Brent ist ein zu Anfang der Finanzkrise arbeitslos gewordener Bänker (so sieht er auch aus), der seine Zeit nun viel lieber der Metal-Musik widmet (so sieht seine Wohnung aus). Wir haben eine kleine Sightseeingtour gemacht, Kaffee getrunken, waren am Pike Place Market einkaufen und anschließend wurde gekocht bzw. gebacken: Bremer Grünkohl und Laugenbretzel (er hat mich geradezu genötigt „German pretzels“ zu machen)! Da wir in der Apotheke keine echte Lauge bekommen hatten, habe ich ein Rezept aus dem Internet gefischt, das auch mit normalem Kaisernatron funktioniert. Und ich muss schon sagen: Die sind verdammt gut geworden (Die backe ich mittlerweile auch in Vancouver)! Drei Nächte habe ich auf dem gigantischen Daunensofa verbracht. Zwei davon wurde auch tatsächlich darauf geschlafen. Eine Nacht habe ich mit der Beantwortung einer meiner wichtigsten Fragen beantwortet: Was bitteschön kann man denn alles sehen, wenn über 700 Fernsehkanäle zur Auswahl stehen??? Nach der Erfahrung werde ich mich gar nicht mehr über deutsches Privatfernsehen aufregen können...
Netter, lustiger und gesprächiger Kerl, der übrigens – nachdem er seinen Vater gefragt hatte, ob die Demokraten wirklich gewinnen – für die kommunistische Partei gestimmt hat. Nur, um das seinen Spießerkollegen bei der Bank erzählen zu können. Vielleicht war die Finanzkrise ja nicht der einzige Kündigungsgrund?! Er hat sich besonders für die Bretzel und Wacken (inklusive Doku Full Metal Village), von dem er noch nicht gehört hatte, bedankt.
Couch Nr. 6 (Luftmatratze im Arbeitszimmer): Jennifer und Raymond haben mir für 10 Tage ein wunderbares Zuhause gegeben. Ihre Wohnung zwischen Downtown und dem Alternativo-Viertel Capitol Hill ist eine Mischung aus Musikalienhandel, Bibliothek und Toys'r Us. Jennifer sammelt Spielzeug (eine faszinierend große Sammlung von My Little Pony und Badewannenspielzeug) und näht Robotorkuschelpuppen. Raymond ist Musiklehrer und hat eines seiner Projekte I Love Jen genannt. Für ein Musikvideo musste das private Hochzeitsvideo herhalten. Aber das bietet sich auch an, wenn man als Batman und Catwoman verkleidet vor den Traualtar tritt (der Joker versucht das ganze aufzuhalten...). Nachdem sie kürzlich fast die gesamte US-Westküste hochgewandert sind, möchten sie nun in Europa eine neue Heimat finden. Die beiden waren ziemlich beschäftigt und so habe ich gar nicht viel Zeit mit ihnen verbracht (ein Filmabend mit Freunden, Barbesuch und ein bißchen Klönschnack abends auf dem Sofa). Bei meinem Auszug habe ich meine tollen Wanderstiefel dort vergessen, was mir erst Wochen später auffallen sollte...
Couch Nr. 7: Ich hatte eines Abends spontan Lust, auf ein Konzert zu gehen, doch alle Leute, die ich bis dahin kannte, hatten keine Zeit. Deshalb postete ich im Couchsurfing-Seattle-Forum. Schon ein paar Minuten später rief Amed an, dirigierte mich zu einer Bushaltestelle, wo ich zusteigen sollte und wir fuhren zu einem Punkhaus-Benefizkonzert für Food Not Bombs (Namen merken! Ist wichtig!) nach Georgetown. Nachts auf dem Rückweg fiel mir auf, dass ich meinen Haustürschlüssel vergessen hatte... Aber das ist ja kein Problem, wenn man mit einem Couchsurfer unterwegs ist ;)
Couch Nr. 8 (Sofa in der hauseigenen Bibliothek, das ich mir mit zwei Katzen geteilt habe): Georgetown!!! Liegt südlich von Downtown und ist einer der wenigen zentralen Orte, an dem Gentrifizierung kaum eine Chance hat, weil es mitten in der Einflugschneise liegt und es noch nicht mal einen Supermarkt gibt. Eingequetscht zwischen Hafen, Gewerbegebiet, Zugdepot, Boeing-Landebahn leben nun all die bunten Gestalten, für die Capitol Hill schon zu teuer geworden ist. Die Dichte an Punks und Hippies ist überproportional hoch und es konzentriert sich um eine halb abgerissene Brauerei. Aber wer braucht schon einen Supermarkt, wenn es eine Tanke, Platten- und Comicladen, Café, Liquor Store, Gallerien und ein paar Bars gibt?!? Es finden jeden Abend zahlreiche Konzerte statt. Georgetown ist einer der Hotspots, wenn es darum geht, auf Züge aufzuspringen, um damit als blinder Passagier durch die USA zu reisen. Und so sieht man ständig Leute an den Gleisen rumlungern, die man dann später auf einem der Konzerte wiedertrifft und die nicht selten auch selbst spontan für ein paar Bier performen.
Ich habe dann eine sehr bier- und musikgeprägte Woche in einem dieser Punkhäuser verbracht. Mit Mary von Food Not Bombs (kriegt noch einen eigenen Blogeintrag) und ihren drei Mitbewohnern. Das Haus stand früher an einer anderen Stelle. Nachdem dort, als es noch von einem mysteriösem Mann bewohnt wurde, gruselige Dinge geschehen sind, wollte es keiner mehr mieten. Es wurde daraufhin abgetragen, am heutigen Standort wieder aufgebaut und freundlich rosa angemalt... Der Ruf ist legendär und selbst hartgesottene Personen haben mich respektvoll angeschaut, wenn ich ihnen erzählt habe, wo ich wohne. Naja, die alte beinlose Puppe in der Plastiktüte, die man in dem Haus gefunden hat, ist in der Tat seltsam...
Mary hat sich letztes Jahr selbstständig gemacht (eigene Bioreinigungsmittel und Putzjob) und hat mich, wenn sie zu einem Kunden gefahren ist immer mitgenommen, damit ich in der Zwischenzeit die jeweilige Gegend erkunden konnte. Sie geht fast nie ohne Mundharmonika aus dem Haus und wir haben einige male gemeinsam auf unseren Instrumenten herumgedaddelt. Eines schönen Nachmittages ist auch ihre Mitbewohnerin mit der Geige dazugestoßen und wir haben am Hafen mit wunderbar schrägen Coverversionen die Enten unterhalten.
Eigentlich hatte ich Seattle wie bereits erwähnt nur gebucht, weil es wesentlich günstiger war, als direkt nach Vancouver zu fliegen. Und ich dachte, ich würde mich nach zwei, drei Tagen Sightseeing auf den Weg Richtung Kanada machen. Aber Seattle ist unübertrieben das Nirvana für Kaffee- und Musikjunkies, sodass man sich richtig überwinden muss, um aufzubrechen... Nach fast drei Wochen habe ich das dann aber gepackt und eine Mitfahrgelegenheit organisiert.